Samstag, 19. Oktober 2013

Musikklugscheiß - auskomponierter Sex

Ein Thema, über das ich schon lange schreiben wollte, und zwar einfach deshalb: Wir alle wissen, daß es in der Kunst, speziell in der Musik genau wie im Leben allgemein immer am Ende um Liebe geht. Hehre Liebe, verbotene Liebe, heimliche Liebe, grausame Liebe, vorgespielte oder vorenthaltene Liebe, tödliche Liebe, ernste und lustige Liebe, unausgelebte und genossene Liebe, erkämpfte Liebe, alles was man sich nur denken kann. Aber Sex? Sex gibt es doch erst seit ein paar Jahrzehnten in der U-Musik, nicht in der spießigen Klassik?
Mich ärgert das immer, wenn Leute als lebensunlustige Kopfmenschen dargestellt werden, nur weil sie schon ein paar Jahrhunderte tot sind und von Beruf Komponist waren - hey, Bach hatte allein in der zweiten Ehe 13 Kinder! Wo kamen die wohl her?

Also: Höret und staunet!

Ich beginne mit einem sehr bekannten und Land auf Land ab gesungenen schlichten vierstimmigen Lied von John Dowland. Dowland lebte von 1563 - 1626 in Großbritannien, bereiste jahrelang Europa, war dann bei einem Lord Walden in Gilneas England angestellt, bevor er Hoflautenist wurde, was leider seine Tätigkeit als Komponist beendete.

Das Lied, um das es hier geht, ist natürlich Come again. Hier singt ein Mann seiner Liebsten zu, sie möge doch bitte zurückkommen, um ihn mit ihren Reizen zu erfreuen. Im ersten Refrain heißt es

To see, to hear,
to touch, to kiss,
to die with thee again
in sweetest sympathy


Wie ich an anderer Stelle schonmal kluggeschissen habe, bedeutet "to die" in diesem Zusammenhang den Orgasmus, la petite mort, der gerne in der Renaissance, dieser langen Epoche, die Dowland sehr typisch repräsentiert, so bezeichnet wird. Der Text baut sich also völlig logisch auf: Sehen, hören, berühren, küssen und I want to die with thee… oh ja, *augenbrauenwackel*. 
Leider klappt's nicht, aber das ist eine andere Geschichte, die uns die zweite Strophe erzählt. ^^


Warum selbst die Kings singers "sympathy" nicht reimend auf "to die" aussprechen, ist mir ein Rätsel, aber egal - eine schöne Aufnahme, oder?

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Der nächste schwer an sexueller Frustration leidende Mann auf meiner Liste ist noch sehr jung - eine klassische sogenannte Hosenrolle. Cherubino, ein Teenager, so jung noch, daß er in der Oper, in die er gehört, von einem Sopran (= Frau in Hose) gesungen wird. Er ist der Page des Grafen Almaviva in Figaros Hochzeit von W. A. Mozart und auf wirklich entzückende Art und Weise erklärt er uns schon im ersten Akt, wie furchtbar ihn seine Hormonschwankungen beuteln, daß jede Frau in ihm dieselben Gefühle auslöst - totales Chaos im Kopf, ein ihm selbst noch unverständliches Verlangen, jede Frau entzündet ihn, im Wachen und im Schlafen redet er nur von der Liebe… arme Sau. 

Hier von der großartigen Christine Schäfer sehr süß dargestellt:


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Eine weitere schöne Hosenrolle ist die des Grafen Octavian, 17 Jahre jung und am Entdecken seiner körperlichen Möglichkeiten in der Oper Der Rosenkavalier von Richard Strauss. Dieser Bursche hat eine Affäre mit der Frau eines Feldmarschalls. Sie wurde gegen ihren Willen jung verheiratet mit diesem Mann, der dauernd weg ist, und leistet sich hin und wieder eine Affäre. Er ist jung, romantisch, stürmisch, ungezügelt, herzlich, verliebt in das Lieben.

Und die Oper beginnt direkt mit einem Orgasmus. (Oder, wenn man sich das so anhört - mit mindestens einem.) Strauss lebte im Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert, also Spätromantik, satte Instrumentation, Anflüge von genüßlicher zarter Dissonanz hier und da… Das Ganze bei geschlossenem Vorhang, das Orchester liefert praktisch den Soundtrack zum Kopfkino der Zuhörer. Der erste Aufzug spielt im Schlafzimmer der Feldmarschallin und der erste gesungene Satz lautet: "Wie Du warst… wie Du bist! Das weiß niemand, niemand ahnt es." Sagt unser schwärmerischer Octavian. 


Das war die erste Oper, die ich gesehen habe, und sicher die, die ich am öftesten besucht habe und jederzeit wieder ansehen könnte. Auch eine der wenigen, die von Regietheater einfach nicht kaputt zu inszenieren gehen - es wird immer das Wiener Milieu um 1910 bleiben. Eines der Stücke, das so schöne und intime Momente erschafft, daß man nur noch vor Andacht weinen will. In Job A machen meine Chefin und ich das in der Abteilung seit Jahren alleine und dann sitzen wir immer ganz still an den blinkenden Pulten und genießen.

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Ebenfalls ein Romantiker, noch dazu ein in Hinsicht auf Opern revolutionärer, ist Richard Wagner. Er war 50 Jahre älter als Strauss, dachte in vielen Dingen aber moderner. In seinem Tannhäuser begegnen wir dem titelgebenden Heldentenor gleich zu Beginn im Venusberg, dem Berg also, in dem Frau Venus wohnt und in dem es rund um die Uhr sinnlich und lustvoll zugeht.

Ich bin persönlich absolut kein Wagnerfan und klassisches Ballett macht mich aggro, aber die Venusbergszene darf in so einem Blogbeitrag natürlich nicht fehlen, daher:


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Deutlich weniger plakativ macht es da Brahms, 20 Jahre jünger als Wagner und dessen charakterliches Gegenteil möchte ich fast sagen - vielleicht war das auch der Grund, weshalb Wagner so gerne öffentlich auf Brahms herumgehackt hat. Aber dazu schreibe ich vielleicht mal gesondert. =)

Erlaube mir, feins Mädchen ist eine deutliche Aufforderung an das feine Mädchen, sich doch bitte endlich vernaschen (die Rosen brechen) zu lassen und das in so liebenswert blumigen Worten, daß man kaum glauben kann, sie könnte lange widerstehen. Außerdem finde ich, ein Mann, der mit den Worten "erlaube mir" beginnt, hat schonmal ein gut Maß Achtung gewonnen. Ich finde keine annehmbare Chorversion auf Youtube, daher eine solistische mit Gitarrenbegleitung:


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So, damit werden wir wieder expliziter. Carl Orff, der Mann, den man fast nur wegen seiner Carmina Burana und der bis heute in ungebrochener Begeisterung im Schulunterricht benutzten Orff'schen Instrumente wegen kennt, war ein Komponist und Musiklehrer des 20. Jahrhunderts. Er ist tatsächlich erst nach meiner Geburt gestorben. 
Die Carmina, die Gesänge, teilt er in mehrere Teile, von denen sich zwei der Liebe widmen. Und auf wirklich großartig mitreißende Weise - ich weiß nicht mehr, wie oft ich dieses Stück gesungen, gehört, einstudiert, dirigiert, am Klavier gespielt habe und man kann sich ihm einfach nicht entziehen. Auf gewisse Art ist das einfach Popularmusik. Deshalb hört Ihr daraus auch gleich drei Stücke:

Si puer cum puellula - bedeutet übersetzt in etwa: Wenn Knabe und Mädchen sich in der Kammer treffen, oh welch glückliche Vereinigung. Die Liebe steigt auf und zwischen ihnen verschwindet die Zurückhaltung, ein Spiel aus Gliedern, Armen und Lippen beginnt.

Dem ist nicht viel hinzuzufügen.


Veni, veni, venias - "Komm schon!" Komm, meine Schöne, ich sterbe vor Lust…


Tja, und dann - kommt sie.

Dulcissime - Süßester! Ah! Ich gebe mich Dir vollkommen hin!


So. Ich denke mal, für den Anfang reicht das. ^^ Sollte mir noch etwas total Schönes in die Finger geraten, reiche ich es nach, und sollte jemand von Euch noch etwas in diese Richtung kennen, bitte gerne in den Kommentaren hinterlassen.

Enjoy your music!

9 Kommentare:

Rowan hat gesagt…

Danke für den klasse Beitrag =D
Ich fänd's wie im Chat bemerkt auch schöner, wenn die alte englische Betonung und Ausprache da genommen würden. Dann reimt es sich auch ^^
(Und der Wortwitz geht auch nicht verloren.)

Anonym hat gesagt…

And don't forget ...erm..Blackie Lawless!

http://www.youtube.com/watch?v=N8I0k2D3Vb8

Hummel hat gesagt…

@Ash: Vielleicht meinen sie auch, es müsse sich auf "thee" reimen und ich liege falsch mit meiner Meinung. Fiel mir grad beim mitsingen auf. ;-)

@Anonym: Jarr. Auch wenn man den Begriff "Klassik" schon etwas dehnen muß, um das noch gelten zu lassen, aber ich liebe das Lied auch. :D Und so.

Anonym hat gesagt…

*hust*
Dehnen gehört ja manchmal dazu!

Alt genug ist der Herr jedenfalls!

Silberweide hat gesagt…

Wo ist denn die Mimi aus La Boheme? Aidas Liebe zu Radames würde mir da spontan auch noch einfallen....♥

Aber huch, was veranlasst Deine Abneigung für klassisches Ballett?

Hummel hat gesagt…

@Anonym: Warum hast Du eigentlich nicht "Animal" verlinkt, hmm? Oder im Stil gaaanz nah an Deinem Geschmack dran das hier? *kichert diabolisch*
http://www.youtube.com/watch?v=FdHhxxrH6pU


Oh, nun, liebe Silberweide - hier geht es nicht um Liebe. Hier geht es um Sex. ;-) Da hat die Mimi nicht viel verloren. Die Musetta vielleicht noch eher, aber selbst ihr "Quando m'en vo" ist eigentlich nur Koketterie, nichts weiter explizit Sexuelles.
Gleiches würde ich jetzt mal von Aida behaupten.

Und Ballett - das ist einfach sooo furchtbar. Ich weiß nicht genau, warum; vielleicht wegen dieser abartigen Rollen- oder Weltbilder, die da unterschwellig transportiert werden, oder wegen dieser übermäßigen Verkünstelung menschlichen Körpers, aber ich ertrage es einfach nicht, wenn streichholzdünne Mädchen in Wallekleidchen oder Tutu auf Spitzen über die Bühne trippeln, ein Sinnbild der Zartheit… *würg*.
Le sacre du printemps kann ich mir immer ansehen. Modern dance, alles immer gerne. Aber Schwanensee… nä.

Anonym hat gesagt…

Weil es hier ja auch um Musik geht, und "Animal" m.E. bis auf das eruptive "I fuck like a beast" deutliche Schwächen hat.
Außerdem will ich mich nicht unnötig unter Druck setzen!

Hummel hat gesagt…

Oho. =)

athena hat gesagt…

Na das war ja mal wieder sehr lehrreich und noch dazu unterhaltsam ^^