Montag, 16. Juli 2012

Pamphlet gegen Musik ohne Musik drin


Ich habe hin und her überlegt, ob ich diesen Artikel wirklich schreiben soll oder ob ich damit ein Kollegenschwein bin, aber ich kann nicht anders - ich muß mir Luft machen, denn dieses Konzert am letzten Samstag hat mich echt richtig frustriert. Es handelt sich um die "Gregorian Voices" aus Weißrussland, wenn man der Ankündigung glauben darf.
Die große Stadtkirche war proppenvoll wie sonst nur zu Heiligabend, überall saßen auch Leute aus meinem Chor und sonstige musikalisch Interessierte, und auch viele Leute, die ich noch nie bei Konzerten gesehen habe. Ein guter Ruf eilte den 7 Herren offenbar voraus, wobei ich mir das im Nachhinein nur erklären kann durch eine Verwechslung mit besseren Gruppen ähnlichen Namens. Der letzte freie Platz für mich befand sich ganz vorne in der ersten Kirchenbank, mit Blick auf das Notenpult des Basses rechts außen.

Das Programm war zweiteilig, wobei der erste Teil gregorianische Gesänge umfassen sollte und der zweite Teil moderner sein - Popstandards à la Kirchenstaub quasi. Beides fand ich total spannend und hätte es gerne wie angekündigt erlebt. Im ersten Teil jedoch hörten wir exakt einen kompletten liturgischen Messablauf, tatsächlich auch gregorianisch. Nur mal zur Erklärung, Wikipedia erklärt Gregorianik sehr simpel so:

Unter Gregorianischem Choral (cantus choralis sive ecclesiasticus, chormäßiger oder kirchlicher Gesang[1]) oder Gregorianischem Gesang (lateinischcantus gregorianus[1]) versteht man den einstimmigen, ursprünglich unbegleiteten, liturgischen Gesang der Römisch-katholischen Kirche in lateinischer Sprache (cantus Romanus[2]).

Dies ist sozusagen der Urschleim der Kirchenmusik. Im weiteren Sinne gregorianisch sind auch mehrstimmige Gesänge, obwohl sie erst hunderte Jahre später entwickelt wurden und selbst dann Schwierigkeiten hatten, sich durchzusetzen. 

Nach der Messe hörten wir ein zweistimmiges Werk ebenfalls liturgischen Inhalts. Nach diesem zweiten Stück im Programm schritten die 7 Herren zu russischer Literatur, ohne mit der Wimper zu zucken. Was immer sie da gesungen haben, war definitiv weder gregorianisch (per definitionem) noch auch nur früh- oder hochmittelalterlich. Ich habe ja keine Ahnung von orthodoxer Musiktradition, aber wenn ein Stück mit einem Quartnonakkord endet, stelle ich es frühestens ins 19. Jahrhundert. 

Nun saß ich da, ganz vorne, und bekam den totalen Kulturgenuß. Hinter sich hatten die Männer zwei pinke Deckenfluter aufgestellt, die offenbar zu ihrem Auftritt gehören. Auf dem Pult vor mir sah ich einen Stapel schlecht kopierter moderner Noten mit dickem schwarzem Kopierrand. Die Pulte selbst waren einheitlich, schwarz, ebenso die hochmodernen Pultleuchten, und wunderbar symmetrisch ausgerichtet. Der Auftritt aus der Sakristei erfolgte in einer Art würdevollem Schwanken und natürlich - Markenzeichen der Gruppe - in Kutten. Die Kapuzen hatten sie von der ersten bis zur letzten Minute derartig tief ins Gesicht gezogen, daß sie den Kopf in den Nacken legen mußten, wenn sie was sehen wollten. Ich kann mir nicht helfen, ich muß bei so einem Anblick immer an die pfirsichwangigen männlichen Neunzehnjährigen denken, die ich gelegentlich auf dem Bahnhof sehe, die ihre Babyspeckröllchen unter einem gothic style Mantel verbergen, deren Schuhe blank geputzt sind und die am Handy "ja Mama" sagen. Da will jemand ein Bild aufrecht erhalten, welches der (für jeden außer ihm selbst) offensichtlichen Realität so sehr widerspricht, daß es einfach nur noch lächerlich ist.

Nun gut. Der Habitus während des Auftretens war selbstverständlich entsprechend todernst. Die Sänger hatten soviel Gefühl wie eine Einbauküche. Man trat nach jedem Stück gemeinsam (auf Kommando des in der Mitte stehenden Baritons, der auch anstimmte und dirigierte) einen Schritt zurück, verneigte sich, als würde das der eigenen Würde höchste Schmerzen bereiten, gerade mal 10 cm in Zeitlupe, und trat dann gemeinsam wieder nach vorne. Die Kapuze wurde immer gerade soweit gehoben, daß für uns Privilegierte in den ersten Reihen ein durchgeistigtes Stirnrunzeln sichtbar war. 

Nun aber der Gesang. Oh, der Gesang. Ich habe innerlich gezetert und geflucht, mich in die erste Reihe gesetzt zu haben, denn damit konnte ich mich nichtmal unauffällig aus der Kirche schleichen - mich kennen hier einfach zu viele Leute. Es begann damit, daß es schonmal nicht zusammen begann. Von den 7 Sängern waren mindestens 5 absolut unsicher im Repertoire. Einsätze stimmten nicht zusammen, die Intonation war, gelinde gesagt, zweitklassig von vorne bis hinten. Die Aussprache war in jeder Sprache derartig schlecht, daß ich anfangs dachte, das müßten uralte Herren sein und alle ihr Gebiss vergessen haben. Und vielleicht noch gekifft. Mein zweiter innerer Erklärungsversuch war, daß die vielleicht etwas über Aufführungspraxis wissen, was ich nicht weiß. Vielleicht wurden ja damals keine scharfen Laute in Kirchen geduldet und es herrschte ein allgemeines Lispelgebot. Zwischendurch flog immer mal ein Kopf in den Nacken, damit ein ausgestiegener oder verirrter Sänger einen verzweifelten Blick zum Boss in die Mitte werfen konnte. Es war furchtbar. 

Mit russischen Titeln zog sich der erste Konzertteil hin bis zu seinem Ende. Man zeigte, was man hatte, nämlich nach russischer Schule ausgebildete Sänger. Aber entgegen der allgemeinen leicht zu befriedigenden Meinung ist für mich ein lauter Sänger nicht gleich auch gut. Nach der Pause folgte nun der Teil der leichteren Muse. Da ich in der Pause schnell aufs Klo gezischt und aufgrund des großen Andrangs dort eine Minute zu spät zurück war, schob ich mich nicht zurück in die erste Reihe, sondern setzte mich ganz hinten auf eine Bank an der Emporentreppe. Ich konnte hier zwar überhaupt nichts sehen, aber ich dachte mir, vielleicht war mein erster hundsmiserabler Eindruck ja nur so schlecht, weil ich direkt neben ihnen saß und hier hinten würde es bestimmt besser klingen.

Nichts da. Es folgte das Gounod'sche Ave Maria mit derben Intonationsschwächen und derartig unausgewogen zwischen den Einzelstimmen, daß man das Gefühl hatte, die Melodie verfolgen zu müssen wie ein Reh im Wald. Dann Sound of Silence - auf Russisch mit 5 oder 6 Strophen und einem unerträglichen Pathos. "Michelle" in Originalsprache, wobei ich eine Weile gebraucht habe, um das zu erkennen und mir dann gewünscht habe, sie hätten es auch übersetzt, damit man sich über die Aussprache nicht aufregen muß. Es folgten noch einige Lieder dieser Couleur, aber nach Michelle bin ich gegangen. Der nette Kirchenmann an der Tür sagte leise "Ich sehe ihrer Mimik schon alles an". Als ich entschuldigend irgendwas murmelte und versuchte, meine schlechte Laune wegzustecken, lächelte er total herzlich und sagte, nein, schon gut, er versteht ja. 

Warum genau rege ich mich eigentlich auf? Ich will es Euch erklären. 

Vor etwa 10 Jahren, als ich noch studierte, saß ich mal in einer Kirche in Sachsen-Anhalt in einem Konzert, in dem unter anderem die Jahreszeiten von Vivaldi gegeben wurden. Ich war ähnlich enttäuscht wie gestern. Es wurde als Barockkonzert angekündigt, dann wurde aber auf den modernen Instrumenten vibriert wie blöd und von Aufführungspraxis war keine Spur. Es stimmten ebenfalls Einsätze und Töne vorne und hinten nicht und das Beste, was man vom Sologeiger behaupten konnte, war, daß er gut aussah: besonders seine blonde Haarpracht, die er immer wieder schwungvoll nach hinten warf, damit man sein strahlendes jugendliches Lächeln besser sehen konnte. 

Ich war frustriert! Verärgert! Nicht einmal, weil das Konzert so schlecht war (und es war echt nicht schön), sondern in erster Linie, weil diese Künstler sich dafür feiern ließen ohne Ende. Und nicht nur das: Es gab sogar noch eine Ansage von einem der Musiker am Ende, sie würden sich bedanken und sie hätten ja nicht einmal geprobt vorher, weil sie alle so viel zu tun hatten. Dafür gab es Standing Ovations und Blumen und so weiter - für eine Qualität, für die ich mich in Grund und Boden geschämt hätte, und wie gesagt, ich war gerade 20 oder 21 und habe noch studiert. 

Aus diesem Frust heraus schrieb ich eine Kritik für die Zeitung. Der Fairness halber schickte ich sie nicht direkt dorthin, sondern zunächst an die Künstler, mit der Bitte, Stellung zu nehmen, denn ich will ja niemanden öffentlich anprangern, ohne die Umstände zu kennen. Ich erhielt eine wütende Antwort (natürlich, ich war ja auch nicht fein), die mir erneut lang und breit erklärte, dafür, daß das Ensemble für dieses Konzert überhaupt nicht geprobt hätte, sei es doch super gewesen. Mir fiel beim Lesen alles aus dem Gesicht. Die Antwort gipfelte darin, mir leicht herablassend zu erklären, ich sei ja noch Studentin und mein Leben sei eine Blümchenwiese, und wenn ich erstmal im Berufsleben stünde, würde ich schon merken, wie es langgeht, daß man keine Zeit zum Proben hat und das sei allgemeiner Usus und ich würde schon noch demütig werden Blabla. 

Nein, dachte ich damals… nein, so werde ich nicht. Ich werde mich niemals selbst so beschämen, daß ich nicht ein Konzert bestmöglich vorbereite. Es gibt genügend Gründe, warum man mal schlecht spielt oder irgendwas an den Baum geht, aber ich will nicht der Grund sein aus reiner Bequemlichkeit und der Überheblichkeit heraus, im Publikum kriegt eh keiner die Fehler mit. Ich mache Musik, weil ich sie transportieren möchte. Ich will diese Kostbarkeiten in die Welt bringen. Ich will mich selbst vor Vivaldi nicht schämen müssen. Natürlich kriegen 99% der Zuhörer 99% der passierenden Schnitzer gar nicht mit. Das ist auch gut so, denn wer verbiestert Fehler zählen will, ist bei einem Livekonzert an der falschen Stelle. Was sich hier übertragen soll, ist die Lebensfreude, die in der Musik steckt und die Musizierfreude, die in den Künstlern steckt. Aber ich als Musiker muß doch nicht die Fehler provozieren! Das ist doch, als würde ich ein Auto bauen und drauf pfeifen, ob Motor und Auspuff zusammenpassen. Selbst wenn in einem Extremfall ein ganzes, zusammengewürfeltes Orchester keinen gemeinsamen Probentermin findet, so hat dennoch jeder die Pflicht, wenigstens seinen Part zu Hause zu üben, finde ich, und dann muß die Anspielprobe vor dem Konzert aber verdammt gut geplant werden.

Und jetzt zurück zu den Gregorian Voices: da kostete eine Karte fix 22 €. In Worten: zweiundzwanzig Euro. Es gab keine Ermäßigungen für sozial Benachteiligte, nicht einmal für Kinder. Und für diese Summe, die hier in der Region wirklich richtig viel Eintrittsgeld bedeutet, wird einem dann etwas geboten, das beschämend ist, schlecht geprobt (wenn überhaupt) und noch dazu in einer geradezu arroganten Lustlosigkeit heruntergesungen. Und das frustriert mich. Das macht mich einfach wütend. Halbherzigkeit in der Kunst ist schon schwer erträglich, aber dieses vollkommene Desinteresse sowohl an der Musik, die sie selbst ausgewählt haben, als auch am Publikum, als auch am Klang der eigenen Gruppe - das geht einfach gar nicht. 

Kleines Hörbeispiel gefällig? Sogar mit den pinken Scheinwerfern, wie ich sehe:



5 Kommentare:

athena hat gesagt…

Schade dass ich mir das Video nicht ansehen kann, aber über einige Aussgen (vonwegen bekifft und so) musste ich echt herzlich lachen =)
Ich weiß, die Sache ist Dir echt ernst, aber es gelingt Dir dennoch immer wieder so ein Thema mit sehr viel Unterhaltungswert zu transportieren :D
Bussi, bis bald <3

Hummel hat gesagt…

Wäre ich Laie und hätte zuviel Geld, hätte ich vielleicht auch gelacht gestern, aber mich stinkt sowas an. -.- Ich hoffe nur, der Unterhaltungswert steigert die Wahrscheinlichkeit, daß jemand das Pamphlet bis zu Ende liest. ^^

Tina hat gesagt…

auweiha! sowas gibt es ja unter der rubrik "local heros" gerne mal - wir haben hier auch solche, aber für das geld und anscheinend so weit angereist, finde ich es doch ein bisschen anmaßend.
schade, dass so oft selbstbild und fremdbild nicht übereinzustimmen scheinen.
das mit den nicht-übenden profis habe ich übrigens auch schon erlebt, die zum großen kirchenmusikprojekt kamen und sagten: was singen wir denn heute?
hast du was dagegen, wenn ich den link zu diesem beitrag an jemanden weiterleite, dem das ähnlich geht wie dir?

Tricia Danby hat gesagt…

Ich hab .... reingehört und nach 0:14 ausgemacht ...

Meine Güte ...

Hummel hat gesagt…

Die singen auch in großen Häusern - Frankfurter Oper und so. Dann mit Verstärkung, Schlagzeugplayback und Lichtshow auf der Bühne, da fällt die mindere Qualität vielleicht weniger auf, aber der Gedanke schmerzt mich trotzdem.