Samstag, 27. Oktober 2012

Meine Lieder

Manchmal kommt es vor, daß ich morgens aufwache mit einem Lied im Kopf. Also - das passiert eigentlich jeden Morgen und ist nichts Besonderes, ich erwache einfach immer mit einem Lied, einer Sinfonie oder irgendeinem Stück, das ich vielleicht die Tage zuvor selbst gespielt habe.

Aber manchmal ist es eben mein Lied. Und da heute so ein Tag ist und ich deshalb immer noch vor Glück zu schimmern vermeine, will ich versuchen, hier in Worte zu fassen, was da eigentlich passiert.

Es ist, als würden Lieder mich stets durch meine Nachtreisen begleiten und versuchen, mit mir hierher zurückzukehren. Viele bleiben Traumgeflüster; einige schaffen den Sprung aus dem Schlaf in mein Erwachen, doch vergehen dann in Sonnenlichtnebel, während ich die Augen öffne (was jedes Mal nicht nur frustrierend ist, sondern regelrecht schmerzhaft, als würde ich etwas sehr Vertrautes verlieren).

Und manchmal, sehr selten, schafft es ein Lied bis auf mein Kopfkissen und wacht neben mir auf. Wir sehen uns an, wir lächeln einander zu, wir finden einander vollkommen und geben uns einander hin. Es ist der perfekte Moment, vielleicht der perfekteste in meinem Leben; ich schmecke das Lied - soweit es denn da ist, meistens sind da nur Bruchstücke und ein sehr intensives Lied-Gefühl, das jedes Lied nur für sich alleine hat - ich singe innerlich immer und immer wieder das wenige, das ich jetzt schon von ihm greifen kann, als würde ich immer wieder die Hand von jemandem streicheln, den ich noch nicht im Ganzen sehe. Wenn ich genau weiß, wie diese Liederhand sich anfühlt und duftet, stehe ich auf. Vorsichtig, ohne die Hand / das Lied loszulassen, suche ich nach Stift und Papier. Alles ist mir Recht, ich male sogar auf Taschentücher oder meinen eigenen Handrücken, wenn ich nur einen Kugelschreiber aber kein Blatt finde - Notenlinien kann man ja überall ziehen.
Dann schreibe ich. Ich male ein Portrait von etwas sehr Geliebtem, und dieses Geliebte ist schon vor mir da, es kommt zu mir, ich denke es nicht aus; vielleicht ist das der Grund, warum ich unbedingt mit Notenblatt und Bleistift arbeite, bis meine Stücke fertig sind, anders als alle anderen Songwriter die ich kenne, die sich einfach an ihr Instrument setzen und so lange herumprobieren, bis ihnen irgendwas gefällt. Und ich male es und dabei ist es wie eine Umarmung, wie die Gewißheit, nach einer sehr langen Reise einen Freund wieder im Arm zu halten. Jetzt bist Du bei mir. Hier bist Du, ich halte Dich, ich habe selbst nicht daran geglaubt. Wenn ich mich dann wieder ins Bett lege (Lieder sind offenbar frühe Besucher), ist es, als hätte plötzlich die ganze Welt entschieden, mich zu umarmen. Der perfekte Moment.

Lieder kommen immer ohne Text. Das heißt, sie kommen mit Text, aber der Text hat es bisher nur einmal aufs Kopfkissen geschafft und meistens träume ich meine Musik in Sprachen, die ich beim Aufwachen nicht mehr verstehe. (Nein, das ist kein Scherz. Ich finde das auch höchst bedauerlich, zumal es mich zwingt, Worte in einer mir bekannten Sprache zu finden, die mir selbst meist unzulänglich vorkommen.) Außerdem kommen sie unvollständig, es erscheint nur ihr Wesenskern, vielleicht ein ganzer Refrain, vielleicht nur ein kurzes Motiv, vielleicht auch mal nur eine bestimmte harmonische Folge oder Basslinie - aber den gesamten Aufbau drumherum muß ich noch leisten. Und da beginnt die Arbeit. Da setze ich mich hin (nein, nicht an mein Instrument), mit Notenpapier und Bleistift bewaffnet, und schalte alle Geräusche aus. Manchmal sitze ich am Bahnhof und halte mir die Ohren zu, weil das Handygeplärre um mich herum das Lied überdeckt, das ich nur innen höre. Ich probiere aus, ich koste und schmecke verschiedene Möglichkeiten. Ich entscheide mich für eine, oder auch für alle an unterschiedlichen Stellen im Stück. Ich fühle in den Charakter meines Liederfreundes hinein, denn nur so kann ich die richtigen Worte finden. Interessanterweise gibt es manche Stücke, die einfach nur auf deutsch gehen, und andere funktionieren nur auf Englisch. Es zu übersetzen wäre wie ein künstliches Raumspray auf einen Blumenstrauß zu sprühen.

Meistens schreibe ich ein Lied zu 98% fertig. Dann setze ich mich ans Klavier und spiele. Ich spiele und singe es wieder und wieder und umkreise die letzen 2% (meistens der Schluß, denn Schlüsse können echte Schweine sein). Dann gehe ich damit zu meinem Bruder, der mir etwas moralischen Auftrieb vermittelt, denn 98% eines Liedes sind auch immer der Punkt, an dem ich mich frage, ob ich es überhaupt wert bin, Lieder zu schreiben, ob ich nicht doch nur Mist produziere, ob das alles nur geistiger Dünnschiß ist. Und dann schreibe ich den Rest.

Heute früh - beim zweiten Aufwachen, denn das erste war ja der frühe Liederbesuch - zog ich aus einer Laune heraus Orakelkarten. Die erste sagte mir "such den Sinn in Deinem Leben". Die zweite sagte "Hast Du das Gefühl, niemand hört Dir zu? Denkst Du, Du seist es nicht wert, Deine Stimme hören zu lassen? Vergiß das - mach den Mund auf."
Ich weiß es. Ich muß es nur noch glauben lernen.

4 Kommentare:

athena hat gesagt…

:-* Herrlich...♥
Eine wundervolle Hommage an Dich selbst, die Musik, Deine Liebe zu ihr... ♥

Hummel hat gesagt…

Vielen Dank. ♥ Es ist ja für mich so, als wären meine Lieder gar nicht meine Lieder, sondern ihre eigenen. Ich nenne sie nur "meine", weil sie sich eben den Weg über meinen Kopf in die Welt gesucht haben. Ich habe nur die Ehre, sie singbar zu machen.

Liath hat gesagt…

Danke für's Teilen dieser Erfahrungen, Gedanken und Gefühle. So ein schöner Text! (Ich wünschte, ich hätte mehr Talent für Musik ...)

LG
Liath

Hummel hat gesagt…

Vielen Dank, Liath! =) Ich glaube, praktisch jede kreative Tätigkeit kann dieses Gefühl von Ganzheit auslösen, dafür muß man nicht explizit Musik machen. Bei jedem Menschen eben etwas anderes.